Friedrich Cerha

1926 – 2023

NACHRUF

Doyen der Wiener Avantgarde

14. Februar 2023

Foto: UE

Er war die Verkörperung des zeitgenössischen Komponisten in diesem Land. Friedrich Cerha stand für die vom Publikum ungeliebte musikalische Avantgarde und deren radikalste Ausprägungen. Er komponierte Werke, die wirklich alle vertrauten formalen und harmonischen Gesetze hinter sich ließen. Seine „Spiegel für Orchester“ realisierten in der Musik, was die abstrakte Malerei für die Bildende Kunst war. Er gründete ein Ensemble, „die reihe“, dessen Name nicht von ungefähr an Arnold Schönbergs „Zwölftonreihe“ erinnerte – als Menetekel dafür, was Wien für die Moderne bedeutet hatte – und was nach dem Zweiten Weltkrieg in den Augen der fortschrittlichen schöpferischen Kräfte daraus werden konnte und sollte.

Im Geiste Schönbergs – und Nestroys

Diesen „Fortschritt“ hat Friedrich Cerha – nicht zuletzt mit Komponistenkollegen der „reihe“ wie Heinz Karl Gruber und Kurt Schwertsik – auch konsequent hinterfragt. Er kannte als rechter Wiener auch seinen Nestroy und wusste, dass dieser Fortschritt oft größer ausschaute als er tatsächlich war. 

So schien denn dieser Avantgardist für die Musikwelt nie richtig zu fassen. Er stellte seinen „Klangkompositionen“ auch Neudefinitionen wienerischer Lieder zur Seite – wie Nali Gruber mit seinem „Frankenstein“ widmete er sich der „schwarzen Poesie“ wienerischer Provenienz und fand in Gruber auch einen idealen Chansonnier für seine Vertonungen von Sprüchen Ernst Keins, die er in zwei „Keintaten“ bündelte. 

Den Tonfall der Wiener Musik hatte Cerha schon als Geiger studiert, der auf Vorstadtbällen in Hernals aufspielte. Mit ebensoviel Neugier hat Cerha später aber auch chthonische Klänge fremder Kulturen gesammelt und sich Anregungen für seine eigene Musik geholt, die in den Ohren seiner europäischen Zeitgenossen mindestens so fremd klang – und im tiefsten Innern doch im Erbe der hiesigen Musiziertradition wurzelte.

Der Durchbruch: »Baal«

Der Punkt, an dem auch skeptische Zeitgenossen das erkannten, läßt sich auf der Zeitachse genau festmachen: Es war der 7. August 1981, der Tag der Uraufführung von Cerhas Brecht-Oper „Baal“ mit dem kongenialen Theo Adam in der Titelpartie bei den Salzburger Festspielen. In dieser Oper passten auf des Dichters teils freche Verse alle Stil-Valeurs, derer sich dieser Komponist je bedient hatte: vom tief in die Seelengründe lotenden orchestralen Raunen bis zum pointiert witzigen Kabarett-Lied hatte alles seinen Platz – und dank der vollkommenen Harmonie zwischen Text und Musik wurde diese Oper zu Cerhas Triumph: Die gewiss erfolgreichste Opernuraufführung der Salzburger Festspiele seit Gottfried von Einems „Dantons Tod“ machte aus dem zuvor misstrauisch beargwöhnten „Neutöner“ den österreichischen Paradekomponisten. 

Tatsächlich hatte Cerha mit diesem Coup den Musikfreunden die Ohren geöffnet. Die sogenannte „Neue Musik“ hatte ihr Bedrohungspotenzial verloren. Hinfort verfolgte man wieder mit Interesse, was die Komponisten an Novitäten anzubieten hatten. Der allgemeine Trend hieß „Neue Einfachheit“. Und Cerha war es gelungen, den Hörern zu vermitteln, seine immer hoch komplexen Werke seien ja doch vergleichsweise „einfach“ zu entschlüsseln. 

Uraufführung an der Staatsoper

Nebst Kammermusik und Orchesterwerken entstanden in der Folge noch große Opern wie die Zuckmayer-Vertonung „Der Rattenfänger“ (steirischer herbst, 1986) und „Der Riese vom Steinfeld“, der 2002 an der Staatsoper mit Thomas Hampson in der Titelpartie uraufgeführt wurde.

Bei aller Freude über die späte Anerkennung hat Friedrich Cerha stets künstlerische Integrität zu wahren gewusst: Auch dort, wo seine Musik scheinbar leicht zu dechiffrieren war, steht sie ästhetisch in einer klaren, ununterbrochenen Entwicklungslinie. Er ist sich treu geblieben; wie sein erfolgreichster Titelheld, der „Baal“. Dessen „Ballade vom Ichthyosaurus“ erzählt vom Standpunkt des Unbeugsamen, der rundum unverstanden bleibt: „Er war allgemein unbeliebt, als er ersoff“, heißt es da – Friedrich Cerha, der Unbeugsame, war vom Schicksal begünstigt und durfte den umgekehrten Weg gehen: Der Doyen der Wiener Avantgarde  starb hochgeehrt am 14. Februar 2023, drei Tage vor seinem 97. Geburtstag.